Ich habe immer polemisiert gegen diesen Pilger-Camino-Hype: seit Harpe Kerpeling (spätestens) muss jeder, der nicht als absoluter spiritueller Banause gelten will, den Jakobsweg (für Insider: den „Camino“) gepilgert sein. Dabei ist auf die Wortwahl zu achten; es muss unbedingt „pilgern“ heißen – man darf auf keinen Fall „wandern“ sagen!
Ich habe mich nur immer gefragt: Wieso soll da eigentlich ein Unterschied sei?
Klar, eine Marienwallfahrt mit Vorbeter und Gesang – das ist was Anderes (ich kann in einem solchen Ereignis allerdings für mich persönlich überhaupt keinen spirituellen Zugang finden) – aber bei einer individuellen Pilgertour? Wo soll denn da der fundamentale Unterschied zu einem Fernwanderweg sein? Spiritualität ist doch nicht abhängig von einem bestimmten Weg, sie passiert doch im Kopf – alleine oder mit Hilfe von irgendwas oder irgendwem, das (der?) größer ist als wir. Spirituelle Erfahrung kann ich suchen, indem ich mit offenem Geist wandere – indem ich mir Zeit nehme zu sehen, Kleinigkeiten zu beobachten, an besonderen Orten Ruhe und Inspiration zu empfinden – und zu diesen Orten können natürlich auch Kirchen und Kapellen am Weg gehören. Dabei ist dann das Besondere beim Wandern (oder Pilgern), dass diese Empfindungen durch die Monotonie des Tages und vielleicht auch die körperliche Anstrengung getriggert und verstärkt werden.
Ist dieses Gefühl abhängig von einem spezifischen Weg? So, als ob es Orte gäbe, die per se „heiliger“ wären als andere? Den Gedanken kann ich nicht nachvollziehen – für mich ist es nicht der Ort, sind es nicht die Moleküle eines bestimmten Platzes, die außergewöhnlich sind – es ist immer nur die Frage, wie ich auf und in einer Situation reagiere: Ich kann vor einem Gänseblümchen in Anbetracht der Komplexität und Größe der Schöpfung still werden und gehe an Sacre-Coeur in Paris unbeeindruckt vorbei…
Wobei Wander- und Pilgerwege von der Wegführung her häufig doch sehr unterschiedlich angelegt sind: während die „Macher“ der Wanderwege sich bemühen, Wege zu markieren, die in möglichst schöner Landschaft über möglichst schmale Pfade mit so wenig Asphalt wie möglich verlaufen, scheint es mir bei den Pilgerwegen oft so, dass durch lange Asphaltstrecken ein gut Maß an Masochismus (oder das Erproben der Leidensfähigkeit) eingeplant und vorausgesetzt ist. Ich erinnere mich, genau in diesem Sinne einen Blog gelesen zu haben, in welchem dem Autor, der sich über das lange Pflastertreten auf dem Camino Frances ausließ, erwidert wurde, dass es ja gerade der Geist des Weges sei, dass – wie im wirklichen Leben – lange Durststrecken auszuhalten und Schwierigkeiten zu überwinden seien… . Nun ja … die Erde als Jammertal – das kommt mir wie aus dem letzten Jahrtausend vor … Dass man mich nicht missverstehe: Natürlich geht es auch darum, nicht bei jeder Schwierigkeit die Flinte ins Korn zu werden und aufzugeben – aber ich finde es attraktiver, die Schönheit (zB mithilfe der auf der Karte selbstgefundenen Wegvariante) zu suchen, als ohne Not und nur, um einem Wegzeichen zu folgen, den vorgegebenen hässlichen Weg unter die Füße zu nehmen. Für mein Teil fühle ich mich mit dem „Großen Ganzen“ deutlich weniger entlang einer Straße verbunden, an der die Autos vorbeirasen, und ich mich gerade noch zurückhalten kann, mich mit einem Sprung in den Graben in Sicherheit zu bringen, als auf einem Wanderweg mit der weiten Aussicht ins Land, auf dem ich schauen und träumen kann. Wobei mir natürlich durchaus bewusst ist, dass die Anlage eines Wanderwegs, der nicht der Straße folgt, viel Geld kostet, das nicht in allen Ländern zur Verfügung steht..
Aber es geht doch auch um die Tradition, die Erfahrung, einen alten Weg zu gehen, den schon unzählige Menschen im Laufe der Geschichte vor mir gegangen sind? In den Fußstapfen der früheren Generationen zu pilgern? Nun ja – soweit ich weiß, dient z.B. die alte Via Regia oder die Salzstraße, über die auch die Jakobspilger gelaufen sind, heute im Allgemeinen als Bundesstraße oder Autobahn: die Jakobswege sind in den seltensten Fällen original und häufig auch nach wirtschaftlichen Interessen angelegt: um Cafés und Restaurants an den in dieser Hinsicht sehr reizvollen Jakobsweg anzubinden, wird auch der Wegverlauf durch ein an Hässlichkeit kaum zu überbietendes Industriegebiet in Kauf genommen (so habe ich das zumindest auf dem Camino Portugues erlebt).
Hatte Luther also recht mit seiner vehementen Polemik gegen das Pilgern?????
Ich denke, dass heute wohl kaum noch jemand zum Heiligen Jakobus pilgert, um von ihm persönlich ein Wunder zu erwarten – die meisten Menschen, die den Camino wandern, erhoffen sich eher eine Form der Selbsterkenntnis auf und durch diesen Weg. Und in einem solchen Sinne verstehen die meisten Protestanten das Pilgern heute auch als eine durchaus interessante Form der persönlichen Sinnfindung und unterstützen (zB in Norddeutschland und Norwegen) die Pilger durch eigens angelegte und markierte Wege sowie eine ausgezeichnete Infrastruktur.
Aber zurück zum Anfang: gibt es vielleicht doch – über die Wegführung hinaus – Unterschiede zwischen Pilger- und Fernwanderwegen? Sind vielleicht auf den Wegen unterschiedliche Menschen unterwegs?
Irgendwann wollte ich meine Meinung zu diesem Thema nicht mehr nur auf Vorurteile aufbauen, sondern habe die persönliche Erfahrung gesucht und bin den portugiesischen Jakobsweg gewandert (sic !) – oder gepilgert ?
Eins vorweg – Ruhe habe ich auf dem offiziellen Weg kaum gefunden – dazu ist jede Wanderung in der Eifel besser geeignet. Dafür war der Weg einfach zu stark frequentiert. Aber ich musste feststellen: es herrscht ein ungewöhnlicher „Esprit“ auf dem Weg: die Menschen sind sehr offen und freundlich und jede Begegnung am Weg kann Ausgangspunkt eines Gesprächs sein – wenn es sich auch meist nur um das „woher“ und die nächste Etappe dreht. In den Herbergen trifft man sich immer wieder- es gibt eben nur einen Weg und eine Richtung, so dass eine ungewöhnliche Solidarität herrscht. Die Stimmung auf einer Berghütte ist ähnlich – aber mir erschien der Zusammenhalt auf dem Jakobsweg doch noch stärker zu sein als ich ihn auf Bergtouren erlebt habe. Dadurch ergibt sich eine eigenartige Atmosphäre, die an sich schon fast wieder „spirituell“ ist. Auf einem Camino ist es eben niedrigschwellig möglich, auch mit fremden Menschen gemeinsam zu Abend zu essen und es ist nicht wie in einer Jugendherberge oder einer Pension, dass zehn Alleinreisende an zehn verschiedenen Tischen vor sich hin mümmeln.
Sind nun unterschiedliche Menschen auf Fernwanderwegen und dem Jakobsweg unterwegs? Ich hatte nicht das Gefühl, dass es mir auf dem Camino leichter als auf anderen Wanderungen fiel, religiöse oder allgemein spirituelle Themen mit meinen Mitwanderern zu bereden – die Gesprächsthemen drehten sich auch beim gemeinsamen Abendessen vor allem um die Wegplanung der nächsten Tage und entsprechend allgemeine Themen. Wenn ich tiefschürfende Gespräche dringender suche, bin ich (für mich gesprochen) besser in Taizé aufgehoben.
Gibt es nun – über den spirituellen Anspruch hinaus, der (s.o.) bei den Mitwanderern zumindest nicht so eindeutig zutage tritt – weitere Unterschiede? Ein Fernwanderweg bedarf (zumindest, wenn man individuell und solo unterwegs ist) einer deutlich intensiveren Planung in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Verkehrsanbindungen – auf dem Camino kann man sich mit dem Fluss der anderen Pilger (ich hätte fast gesagt: der Herde…) mittreiben lassen. Insofern ist der portugiesische Camino (und wahrscheinlich auch der Camino Frances in Spanien) auch für Menschen geeignet, die weniger Interesse an oder weniger Erfahrung mit der Planung einer Tour haben.
Fazit: Mein allzu negatives Urteil zum Pilgern habe ich revidiert – beide Arten des Wanderns stehen gleichberechtigt nebeneinander und überschneiden sich: ich sollte sie nicht gegeneinander ausspielen – die Wahl ist eher eine Frage der individuellen Vorlieben und der persönlichen Erfahrung …